Allgemein
Der folgende Artikel hat vor allem die Distanzierung von rechtsextremen Szenen zum Schwerpunkt. Über die gezielte Ausstiegsarbeit im Bereich militanter, religiös begründeter Fundamentalismus sind unter Genderaspekten in Deutschland bislang vergleichsweise weniger Erfahrungen verfügbar. In dieser Hinsicht wird die Zusammenarbeit mit dem Radicalisation Awareness Network in der Zukunft hilfreich sein.
Die meisten Angebote der Ausstiegshilfe in Deutschland sind entweder staatliche Angebote, die häufig von den Landesjugendämtern eingerichtet wurden, oder Angebote von freien Trägern der Jugendhilfe in den einzelnen Bundesländern. In manchen Fällen sind die Ausstiegsangebote bei den Landesämtern des Verfassungsschutzes angebunden. Seit kurzem besteht die Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ e.V. (BAG Ausstiegsarbeit) als unabhängiger, bundesweit tätiger Akteur im Feld der Ausstiegsarbeit. Die BAG Ausstiegsarbeit ist aus dem Kreis der ehemaligen Projektträger des XENOS-Sonderprogramms „Ausstieg zum Einstieg“ (2009 bis 2014) entstanden. Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums den Gründungsprozess der BAG begleitet. Die FES ist nicht Mitglied, aber versteht sich als deren Partner. Die BAG ist ein eigenständig handelnder Akteur.
Mit Ausnahme von Sachsen-Anhalt verfügt in Deutschland derzeit jedes Bundesland über ein Angebot der Ausstiegshilfe für Angehörige von rechtsextremen Milieus. Die überwiegende Anzahl der hilfesuchenden Ausstiegswilligen sind (junge) Männer, die sich aus der Szene lösen wollen bzw. gerichtliche Auflagen haben, dies zu tun. Der Anteil von Frauen ist derzeit nicht zweifelsfrei zu ermitteln und dürfte sich bei etwa 3- 10% bewegen.
Die methodische Bedeutung, die im Prozess der Arbeit den Thematiken der männlichen und weiblichen Gender-Identität im Verständnis von eigener Männlichkeit bzw. Weiblichkeit zukommt, ist noch nicht hinreichend ermittelt. Hingegen ist bemerkenswert, dass der Anteil der weiblichen Mitarbeiterinnen, die als Ausstiegsbegleiter_innen tätig sind, beträchtlich ist. Auch ist dies offenbar keineswegs zufällig erfolgt, sondern scheint Ausdruck eines gezielten, wenngleich noch nicht systematisierten Vorgehens mit Gender-Konnotation zu sein.
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Wie arbeitet Ausstiegshilfe?
Im praktisch-strategischen Prozedere von Ausstiegshilfe gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Vorgehensweisen:
- Der stillen Ausstieg – „Damit fahren die kleinen Fische besser“: Bei diesem Vorgehen werden so genannte „Legenden“ entwickelt, mittels derer die Ausstiegwilligen ihrer Szeneumgebung gegenüber auftreten können, ohne Gefährdungen oder völlig Isolation befürchten zu müssen. Hierbei werden „harmlose, lebensweltliche“ Begründungen entwickelt, warum man nicht mehr aktiv in der Szene mitarbeiten kann. Es mag sich um finanzielle Gründe handeln (z.B. die Notwendigkeit Schulden abzubezahlen) oder um berufliche Veränderungen (Beginn einer Ausbildung, Bewerbung für oder Beginn einer neuen Stelle, die politisch sensibel ist) oder aber um familiäre Umstände (Verpflichtungen gegenüber Kindern). Familiäre und Gender-Themen mögen hierbei durchaus eine zentrale Rolle spielen.
- Die öffentliche Distanzierung – wird eher von „profilierteren Szenegrößen“ gewählt. Hierbei werden die Ausstiegswilligen darin unterstützt, sich klar und deutlich zu distanzieren und öffentlich eine entsprechende Position zu beziehen. Dieser Weg des Ausstiegs muss besonders sorgfältig vorbereitet und aufwändig begleitet werden. Denn zum einen ist in diesem Verfahren ein sehr viel größerer persönlicher Veränderungsdruck zu gewärtigen. Zum anderen wird die Person auf diesem Wege möglicherweise auch als „Verräter an der Sache“ wahrnehmbar.
Die exemplarischen Arbeitsschritte von Ausstiegshilfe
Die ausstiegwillige – oder distanzierungswillige – Person wendet sich an einen Träger der Ausstiegshilfe; oder sie wird von Jugendarbeiter_innen oder vergleichbaren Hilfebereichen dorthin verwiesen. Vor Beginn der konkreten Einzelfallhilfe und Ausstiegsarbeit werden einige vorbereitende Schritte vollzogen, die nötig sind, um den anvisierten Arbeitsprozess abzusichern.
1. Analyse von Veränderungspotential und Veränderungsdruck Zunächst vollziehen die Mitarbeiter_innen zusammen mit der/s Ausstiegwilligen einer genaue Rekonstruktion der gesamten Rahmensituation, in der sich die Person derzeitig befindet. Dies erfordert zunächst auch, dass der/die Ausstiegswillige eine Schweigepflichtentbindung erteilt, damit die Helfer_innen bei Behörden, Jugendämtern, Polizei, Gerichtshilfe etc. die erforderlichen Hintergrundinformationen einholen und etwaige Klärungen erwirken können.
2. Anamnese und Motivationscheck In einem zweiten Arbeitsschritt geht es darum, im vertieften Einzelgesprächen die/den Ausstiegswillig_e noch genauer kennen zu lernen, so dass eine Analyse von deren Veränderungspotential und Veränderungsdruck erfolgen kann. Bei der Sondierung des Veränderungspotentials/-drucks erkunden die Mitarbeiter_innen systematisch vier Dimensionen:
- Die persönliche Dimension: Welche Selbstwahrnehmung, sozialen/ kognitive Kompetenzen sowie Lebenswünsche/-ziele bestehen? Wie gestalten sich Familie, Freunde, und Beziehungen der Person? Welche/r jugendkulturelle Hintergrund, Musikvorlieben, Mediengewohnheiten, und Freizeitvorlieben liegen vor?
- Die spezifischen Problemlagen: Welche besonderen Herausforderungen stellen sich hinsichtlich Substanzabhängigkeiten (Alkohol etc.), finanzielle Verschuldung, Wohnungssituation, Bildungsabschluss, berufliche Lage? Bestehen psychosoziale Risikofaktoren bestehen, z.B. in Bezug auf Affektkontrolle und Gewalthandeln bzw. psychische Stabilität und psychotraumatische Belastungen?
- Die externe Szeneverortung und strafrechtliche Vorgeschichte: Gehört die Person zum Kader von extremistischen Organisationen? Welche Ebene, Hierarchieposition und Funktionen nimmt sie wahr? Seit wann ist sie in der Szene? Inwiefern handelt es sich eher um eine/n „Gelegenheits-Nazi“, der nur anlassgebunden an Szeneaktivitäten Anteil hat, oder um eine fest integrierte und sozusagen repräsentative Figur der Szene? Gemessen an den polizeilichen und anderen Unterlagen, welche Vorgeschichte an Delikten, Strafen und Rehabilitationsmaßnahmen besteht? Welche Gewaltakzeptanz und welches Risiko des impulsiven Gewalthandelns liegen vor?
- Die individuelle Szeneverortung und die persönliche Haltung in Bezug auf Rechtsextremismus: Welcher Grad der „emotionalen Bindung an“ und sozialen Verknüpfung mit rechtsextremistischen Kontexten liegt vor? In anderen Worten, welche psychosozialen Funktionen hat die Szenezugehörigkeit für die Person? Wie ist ihre Wahrnehmung der persönlichen Gefährdung durch einen Ausstieg oder eine Distanzierung? Welche Beweggründe sind es, die der Person die Absicht eingegeben haben, sich aus den derzeitigen Bezügen zur rechtsextremen Szene zu lösen? Was stellt sie sich unter einer solchen Ablösung oder unter einem Einstieg vor?
In allen vier Dimensionen können Gender-bedingte Gesichtspunkte eine wesentliche Rolle spielen, insbesondere in den persönlichen und individuellen Dimensionen. Gerade was die Motivation zum Ausstieg betrifft, kann beobachtet werden, dass neue Partner_innen, und eine mit ihnen verbundene veränderte Wahrnehmung von intimer Partnerschaft, in der Herausbildung der Ausstiegsmotivation nicht selten eine wesentliche Rolle spielen. Auch die häufig zu verzeichnende Enttäuschung und Desillusionierung über die Szene hat nicht selten mit spezifischen Verengungen und Konflikten in den dort praktizierten Entwürfen von Männlichkeit oder Weiblichkeit zu tun. Im Einzelfall mag auch das Comingout von homo- oder bisexuellen Wünschen ein Wirkungsfaktor sein.
3. Priorisierung: Existenz sichern – Sicherheit gewährleisten – Hilfeplan erstellen Im dritten Arbeitsschritt wird ein Hilfeplan ausgearbeitet, der in eine Art Vertrag oder Vereinbarung zwischen Klient_in und Ausstiegshilfe mündet. Die durch diese feste Vereinbarung hergestellte Verbindlichkeit ist eine zentrale Voraussetzung für das Gelingen der Arbeit. Da Szeneangehörigen wie Aussteiger_innen in ihren Biografien häufig zahlreiche belastende Erfahrungen des Beziehungsabbruchs gemacht haben, muss zunächst die Verbindlichkeit dieser neuen Arbeitsbeziehung beiderseitig ausdrücklich formuliert werden. Hierbei müssen auch Vorkehrungen dahingehend getroffen werden, wie man bei aufkommenden Zweifeln an der Verbindlichkeit und bei einer Verfehlung der Vereinbarung konkret vorgehen will, um Lösungen zu erwirken. Von größter Bedeutung für die Begleitung eines Ausstiegsprozesses – wie überhaupt aller Formen intensiver Präventions- und Rehabilitationsarbeit – ist es, eine sichere Vertrauensebene zwischen Ausstiegsbegleiter_in und ausstiegswilligem/r Klienten_in herzustellen und zu pflegen.
Zielvorgaben: In dieser Arbeitsvereinbarung sind Zielstellungen festgehalten, die aus der gemeinsam vollzogenen Klärung des derzeitigen Ausgangszustandes, der Anamnese, erarbeitet wurden. Beispielsweise kann ein vordringliches persönliches Entwicklungsziel darin bestehen, bestimmte Muster des Aggressions- und Gewalthandelns aufzulösen bzw. bestimmte Wiederholungsverläufe von so genannten „Gewaltspiralen“ zu durchbrechen. Oder aber es wird das Unterlassen bestimmter (ressentimenthafter oder menschenverachtender) Äußerungsweisen und das Erlernen bestimmter alternativer Verhaltensweisen vereinbart. Gegebenenfalls können auch bestimmte Maßnahmen der öffentlichen Positionierung ein persönlich gefasstes Ziel darstellen.
Wünsche: Dabei ist es eine besondere Aufgabe der Ausstiegshilfe, diejenigen persönlichen Bedürfnisse und Lebenswünsche mit einzubeziehen, die für die Zugehörigkeit der Person zur Szene ausschlaggebend waren. Der Ausstieg muss für den/die Ausstiegswillige als persönlich sinnvoll und bedürfnisgerecht empfunden werden. Deshalb werden sogenannte funktionale Äquivalente erarbeitet. Hierbei wird für die Szene-typischen Formen der Befriedigung von bestimmten persönlichen Bedürfnissen ein Ersatz – funktionales Äquivalente – entwickelt. (…) Mit diesen spezifischen Bedürfnislagen mögen sich auch konkrete Wünsche der Person nach dem Aufbau einer bestimmten beruflichen und privaten Lebensperspektive verbinden. Dass der Perspektive von Gender und Gender-bedingtem Verhalten beim Umgang mit den persönlichen Bedürfnisse und Lebenswünsche von Klient_innen eine große Bedeutung zukommt, ist evident. Denn das Bedürfnis nach Kameradschaft/Zusammenhalt, nach Spannung/Thrill oder nach politischer Auseinandersetzung sind vielfach Gender-konnotiert. Bedürfnisse nach Stabilisierung des psychischen Befindens sind es ebenso. Ferner mag neben den spezifischen persönlichen Bedürfnissen noch der Wunsch hinzukommen, verantwortliche Elternschaft zu übernehmen und Kindern in bestimmter (stets Gender-konnotierter) Weise Mutter oder Vater zu sein.
Zuständigkeiten: Um der Fülle von für solche komplexe Arbeitsprozess relevanten Gesichtspunkte gerecht werden zu können, arbeiten die Ausstiegshilfen mit einer Reihe von Kooperations-Partnern zusammen, die je nach Bedarf und in Absprache mit den Klienten_innen hinzugezogen werden (z.B. Anti-Gewalt-Trainings, Schulden-/Suchtberatung, Psychotherapie, Mutter-Kind-Einrichtungen, Sportangebote).
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Genderaspekte
Die Genderaspekte der Ausstiegshilfen wurden bisher von den in diesem Bereich Tätigen nicht systematisch konzeptionell bedacht – oft aber intuitiv beherzigt. So sind in der unmittelbaren Praxiserfahrung mitunter folgende geschlechtsspezifische Arbeitsstrategien wahrgenommen worden:
Teambesetzung Ausstiegsbegleiter_innen bieten sich meist als männliche, manchmal auch als weibliche Rollenvorbilder an, die eine Alternative zu den bisherigen Vorstellungen und Erfahrungen der Klient_in darstellen. In Fällen, in denen einer Person die Arbeitsbeziehung zu einem Mann oder einer Frau aus persönlichen Gründen schwer fällt oder diese Arbeit für sie zu konflikthaft besetzt ist, wird in gleichgeschlechtlicher Konstellation gearbeitet. Andererseits wird dort bewusst gegengeschlechtlich gearbeitet, wo das gleichgeschlechtliche Arbeiten konfliktreich besetzt ist (was manchmal bei männlichen Klienten der Fall ist, die stark von Konkurrenzgefühlen bestimmt sind bzw. hinderliche Aversion gegenüber einem als nicht hinreichend maskulin wahrgenommenem Gegenüber haben). Hier muss abgewogen werden, wann, wie und in welchem Umfang die Bearbeitung der psycho-traumatische bzw. Gender-bedingten Affektlagen in den Ausstiegsprozess Eingang finden kann.
Gender als Thema der Ausstiegsarbeit Geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen, die bei der Hinwendung zum rechtsextremen Milieu und bei den Szeneaktivitäten von Bedeutung waren, werden im Ausstiegsprozess thematisiert. Bisher werden im Allgemeinen nur Vorstellungen von Männlichkeit zum Thema gemacht. Eher ausnahmsweise sind auch die Fragen der Haltung zu selbstbestimmten Frauen und homosexuellen Personen systematischer Teil der Ausstiegsarbeit. Vereinzelt beginnt man damit, Mädchen- und Frauen-spezifische Herangehensweisen der Ausstiegshilfe zu konzipieren (so z.B. von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt [ARUG] in Niedersachsen [Stand Sommer 2014]). Frauen, die die rechtsextreme Szenen aufsuchen, sind häufig von körperlicher Stärke, „männlich“-dominantem Auftreten und martialischen Ausdrucksformen fasziniert. Darin enthalten ist manchmal auch ein ausgeprägtes Bedürfnis nach männlichem Schutz. Diesem Schutzbedürfnis im Ausstiegsprozess auf geeignete Weise Rechnung zu tragen, stellt eine besondere Herausforderung der Ausstiegshilfen für Frauen dar. Beziehungen und Ehen zwischen rechtsextrem orientierten Partnern sind nicht selten auch von häuslicher Gewalt und Übergriffen geprägt. Ausstiegswillige Frauen, die gleichzeitig einen ihr gegenüber gewalttätigen Partner verlassen, mögen von diesem und dessen unmittelbarem Kameradschaftskontext umso mehr bedroht sein. Diejenigen Frauen, die in rechtsextremen und/oder Hass-geprägten und gewalttätigen Gruppen selbst zu Täterinnen werden, tun dies manchmal deshalb, weil sie dadurch die Unterdrückung und den geringen sozialen Stellenwert aufwiegen wollen, den sie in ihrem Herkunftsmilieu und teilweise auch innerhalb der Szene innehaben. Das damit verbundene, mitunter nur verdeckt wirksame geringe Selbstwertgefühl stellt dann eine besondere Herausforderung an die Ausstiegsarbeit dar. Denn diese zielt ja auf eine dezidierte und selbstbewusste persönliche Entscheidung zur Loslösung ab.
Eine Thematik, die überwiegend bei weiblichen Ausstiegswilligen in Erscheinung treten und die auf allen Ebenen der psychosozialen Arbeit mit diesen Frauen eine Rolle spielen können, sind Erfahrungen des sexuellen Übergriffs. Hier scheint es ratsam, begleitend zum Ausstiegsprozess weitergehende therapeutische Hilfen zugänglich zu machen. Diejenigen Frauen, die in rechtsextremen Szenen aktive und aggressive Rollen annehmen, verfolgen dabei manchmal eher indirekte, passiv-aggressive Strategien des Agierens. Sie stacheln manchmal eher die Männer zur Gewalt an, als dass sie selbst zur handgreiflichen Täterin werden (etwas nach dem Muster: „Der Ausländer hat mich angemacht. Mach(t) was!“) Diese Handlungsmuster des subtil-indirekten Gewaltagierens, mögen aber auch im Ausstiegsprozess noch als „ganz normal“ empfunden werden, so dass sie sich der Aufarbeitung in der pädagogischen Situation entziehen.
Überlegungen dazu, warum Mädchen und Frauen in nur sehr geringem Maß Ausstiegsprogramme in Anspruch nehmen
Da Frauen nur selten wegen vorurteilsmotivierten (Gewalt-)Aktivitäten festgenommen bzw. verurteilt werden, verspüren sie in geringerem Maß das Bedürfnis nach Ausstieg. Denn der Druck durch drohenden Strafen und Auflagen, der bei männlichen Ausstiegswilligen nicht selten eine maßgebliche Rolle spielt, ist hier nicht gegeben.
Die Wege, auf denen ausstiegswillige Personen in ihrem Umfeld von den lokal erreichbaren Einrichtungen der Ausstiegshilfe erfahren, sind eher informeller und kolloquialer Natur. Freunde, pädagogische Bezugspersonen, das Arbeitsumfeld, Lokalmedien oder vergleichbare Gesprächskanäle mögen den Hinweis geben. Das Wissen um einen positiven Ausstiegsverlauf eines/r Bekannten oder einer namhaften Person aus der Region gibt eventuell den Anstoß, die Existenz der Ausstiegshilfe stärker wahrzunehmen. Da nur wenige Mädchen und Frauen über die Ausstiegshilfe aussteigen, gibt es auch kaum vorbildhafte Geschichten über so ein Hilfsangebot.
Der Ausstieg aus dem rechtsextremen Umfeld ist für Frauen generell komplexer als für Männer; und er ist schwieriger zu bewerkstelligen. Das hängt mit dem Frauenbild der rechtsextremen Szene zusammen. Denn die Frau hat dort eine sehr akzentuierte Gender-definierte Rolle inne, die vorsieht, dass sie die Männer der Szene – und den männlichen Partner insbesondere – umfänglich unterstützt und dass sie den Männern/ ihrem Partner und der politischen Sache in vielfacher Hinsicht „zur Verfügung“ steht. In anderer und stärkerer Weise als die Männer sind die Frauen der politische Sache sozusagen besitzhaft zugeordnet. Auch wurden diese impliziten Besitzansprüche von vielen weiblichen Szeneangehörigen bewusst als eigener Weiblichkeitsentwurf akzeptiert und vorgelebt, so dass sie ein verbürgtes Element der Szene sind. Der Ausstieg einer Frau ist somit häufig mit dem persönlichen Verlassen eines szenezugehörigen Mannes verbunden und wird, auch ohnedies, von der Szene als eine stärkere Kränkung und sozusagen als doppelter Verrat an der Sache wahrgenommen. Der Ausstiegsprozess einer Frau kann dadurch noch erheblich kompliziert werden, dass aus der Beziehung mit dem ebenfalls szeneangehörigen Mann Kinder hervorgegangen sind. Denn diese Kinder werden möglicherweise im Sinne von rechtsextremen Vorstellungen der Volksgemeinschaft als Besitz der Szene angesehen, dessen Entwendung eine weitere Kränkung der Mitglieder der Szene hervorrufen kann.
In der Zusammenarbeit mit Praxisfachpersonen des Radicalisation Awareness Network der Europäischen Kommission wurde deutlich, dass sich in diesen belange viele Parallelen zu Phänomenen der Banden-Kriminalität in Großbritannien finden lassen, die in der interdisziplinären Zusammensicht aufschlussreich sein können. (Zur Thematik archaische/vormoderne Geschlechterrollenvorstellungen.)
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Genderempfehlungen
Erreichbarkeit von Mädchen/Frauen für Distanzierungsprozesse
Wie Mädchen und Frauen als extremistische Akteurinnen und Täterinnen oft unterschätzt und übersehen werden, so wird bislang auch die Notwendigkeit übersehen, spezifisch ausgerichtete Distanzierungsangebote für Mädchen und Frauen zu entwickeln und zu erproben. Besonders günstige Einstiegsbereiche hierfür könnten die familienorientierten Beratungsstellen, Mutter-Kind-Einrichtungen bzw. Jugendhilfeeinrichtungen sein, aber, mit Blick auf das Thema „häusliche Gewalt“, auch die Frauenhäuser. Insofern gewaltaffine und rechtsextrem ausgerichtete Mädchen und Frauen zwar in vergleichsweise geringem Umfang auch im Justizvollzug anzutreffen sind, wäre auch hier spezifisch anzusetzen. Der Justizvollzug Frauen – in Vechta und in Berlin – hat hier auch bereits Erfahrungen gesammelt, besonders in Bezug auf stark gewalttätige Frauen.
Die Jugend- und Familienhilfeeinrichtungen hingegen tendieren freilich dazu, in ihren Klient_innen vor allem den Hilfsbedarf im engeren Sinn zu sehen, für den sie als Einrichtung sozusagen zuständig sind, wie z.B. Frauenhäuser in erster Linie den Schutz vor gewalttätigen Partnern gewähren und trauma-therapeutische Ersthilfe geben. Die Bearbeitung des Szenekontexts der Klientin werden dabei in aller Regel nicht Teil des Hilfeplans. Mithin ist die Gefahr groß, dass die Klient_innen nach Beendigung des Hilfeverhältnisses in ihre alten Gruppen- und Verhaltenskontexte zurückkehren und ihre rechtsextreme Zugehörigkeit und Aktivitäten vollends unbearbeitet bleiben, obwohl sie zumeist integraler Bestandteil der entstandenen Hilfebedürftigkeit sind.
Ferner ist die persönliche Elternschaft erfahrungsgemäß ein guter Moment, um Veränderungen der Lebenshaltung anzustoßen bzw. umzusetzen. Auch kommen werdende Eltern, vor allem junge Mütter mit einer Vielzahl von Familien- und Jugendhilfeangeboten in Kontakt. Entsprechend ratsam scheint es, Familienhelfer_innen, Hebammen, Mutter-Kind-Einrichtungen, Jugendämter u.a. dahingehend zu sensibilisieren und ihnen Interventionskompetenzen zu vermitteln. Umso aussichtsreicher ist, im Kontext von familienorientierter Hilfen Möglichkeiten des Coachings von Klient_innen durch die Mitarbeiter_innen zu schaffen, die diese darin unterstützen können, sich schrittweise und nachhaltig von der rechtsextremistischen Szenezugehörigkeit zu distanzieren – und die dort gemachten Erfahrungen persönlich zu bearbeiten.
Genderbewusste Distanzierung: Themen/ Strategien für Mädchen- und Frauen-orientierten Ausstiegsarbeit und die Gefährdeten-Ansprache
- Freundschafts- und Partnerschaftsbeziehungen zu Mädchen/ Frauen und Jungen/Männern außerhalb von rechtsextremistischen Kreisen stärken!
- Mädchenspezifische Empowerment-Angebote: Schutz durch Beziehung ja – Abhängigkeit nein! Der Schutz und die Stärkung, die Mädchen/ Frauen (wie auch Jungen/Männer) durch die nahe Beziehung zu einem/r Partner_in erfahren, ist schätzenswert. Die Beziehungsbedürfnisse der Person sind in jedem Fall ernst zu nehmen. Sollten sich daraus jedoch Abhängigkeit- und Unterdrückungsverhältnisse ergeben, besteht Anlass, einen Prozess des Bearbeitens und der Ablösung anzuregen. Hierbei können Ressourcen-orientiert alternative Möglichkeiten der Selbststärkung unterstützt werden.
- Behutsame Trauma-therapeutische Ersthilfe mit einbeziehen: Frauen in der Ausstiegshilfe haben oftmals Erfahrungen mit familiärer, häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauchserfahrungen und Übergriffen aus der eigenen Clique. Diese Themen können von den Aussteigerinnen häufig erst sehr spät und nur teilweise thematisiert werden.
- Soziale und politische Anliegen der jungen Frauen aufgreifen und Engagement stärken! Wo ein persönlicher Wille zum sozialen und politischen Engagement erkennbar ist, kann dieser gefördert und es können gangbare Betätigungsfelder eruiert werden (Umweltschutz, Globalisierungskritik, Menschenrechtsarbeit, kirchlich-soziale Arbeit, soziale Gerechtigkeit, Tierschutz, freiwilliges soziales oder kulturelles Jahr)
- Jugendkulturelle Kreativität aufgreifen und unterstützen! Wo sie eine Neigung zu kreativem oder (jugend-)kulturellem Ausdruck zeigt, kann dies aufgegriffen und in Bahnen geleitet werden.
Spezifische Gesichtspunkte bei der Distanzierungsarbeit mit rechtsextremen Elternteilen Bei der Arbeit mit ausstiegswilligen Eltern, bei denen entweder nur die Mutter oder der Vater die Szene verlassen wollen, stellen sich besondere Herausforderungen. Die Ausstiegsarbeit wird ggf. mit Erziehungsberatung verbunden sein müssen. Das Kindeswohl und der Schutz der Kinder vor möglichen negativen Auswirkungen der Szenezugehörigkeit stehen als zentrales Thema im Mittelpunkt der Arbeit. Der Ausstieg von Müttern aus der Szene kann sich wegen Bedrohung durch Gewalt/Repressalien bzw. durch Kindesentführung besonders schwierig gestalten. Eine funktionale Vernetzung der Ausstiegs-/Distanzierungsarbeit mit den Bereichen der Jugend- und Familienhilfe sowie der Rechtsprechung/Strafrechtspflege scheint angeraten. Denn den Praktizierenden müssen die besonderen Schwierigkeiten bei der Trennung/Scheidung von Eltern infolge von Ausstiegsprozessen bewusst sein.
Veränderungsdruck erhöhen Die Rolle, die Frauen im Rechtsextremismus einnehmen, bedingt für die Arbeit von Polizei und Justiz eine besondere Herausforderung. Praktiker_innen der Ausstiegshilfe berichten, dass sie mit den weiblichen (Gewalt-) Akteurinnen der rechtsextremen Szene kaum in Kontakt kommen und somit keine Einwirkungsmöglichkeiten erhalten. Denn deren Taten und Aktivitäten würden nicht geahndet. Aufgrund der so genannten „Genderblindheit“ tendieren Polizei und Justiz dazu, weibliche Täterschaft zu unterschätzen oder zu übersehen, so dass die Mädchen/ Frauen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Somit entsteht für sie kein unmittelbarer Anlass/ Druck, sich mit dem eigenen extremistischen Handeln auseinanderzusetzen. Eine häufige Forderung von Praktiker_innen ist deshalb, den Gewaltbegriff auszudehnen und auch Tatbestände der „vorurteilsmotivierten Gewaltakzeptanz“ anzuerkennen. Praktiker_innen sehen vorurteilsmotivierte Gewaltakzeptanz z.B. dann gegeben, wenn junge Frauen bei Gewaltübergriffen ihre männlichen Cliquenmitglieder anfeuern oder unterstützen (und dieses Verhalten jedenfalls nicht verhindern oder zur Anzeige bringen), oder wenn Frauen Texte übersetzen und in Nachbarschaft und Internet verbreiten, die zu Gewalt und Hass und Gewalt gegenüber Dritten aufrufen. Soweit es im Kontext von Strafverfolgung und Rechtspflege derzeit möglich ist, wäre deshalb gerade bei Frauen mehr auf Handlungen der Beihilfe, Anstiftung und unterlassenen Hilfeleistung zu achten. Denn wenn diese verlässlich geahndet werden, entstehen Ansatzpunkte für Distanzierung, Ausstieg und Rehabilitierung.
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