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Familienorientierte Hilfen

Mit familienorientierten Hilfen ist im Allgemeinen eine ganze Reihe von sozialpädagogischen und beratenden Angeboten gemeint, die zur Unterstützung von Familien in besonderen Problemlagen beitragen. Die hier aufgeführten Formate der Familienhilfe sind solche, die für Fragen der Distanzierung und Deradikalisierung von Frauen und Mädchen besonders relevant scheinen. Vorab muss festgestellt werden, dass besonders in diesen Bereichen häufig noch mehr Sensibilisierung der Fachkräfte für Themen von Extremismus und Gender notwendig ist. Auch besteht ein Mangel an gezielten Interventionsstrategien und Unterstützungsangeboten.

> Gesundheits- und Hebammendienste, Erziehungsberatungen, Mutter-Kind-Gruppen
> Elternberatungen
> Stationäre Mutter-Kind-Einrichtungen
> Ambulante Familienhilfe / Kinderheime
> Frauenhäuser
> Genderaspekte
> Beispiele

Gesundheits- und Hebammendienste, Erziehungsberatungen, Mutter-Kind-Gruppen

Bei entsprechender Sensibilisierung und Fortbildung der Fachkräfte können Jugendämter, Gesundheits- und Hebammendienste in die Lage versetzt werden, früh zu erkennen, wenn sie Mütter oder Eltern betreuen, die in extremistischen Lebenszusammenhängen stehen. Ferner kann die Kompetenz erworben werden, zuverlässig einzuschätzen, inwiefern diese Zusammenhänge Gefährdungen des Kindeswohls befürchten lassen – und wie dem vorgebeugt werden kann. Beispielsweise kann ggf. der Besuch einer Mutter-Kind-Gruppe angeregt werden, wodurch sich nicht nur eine Entlastung der betroffenen Mutter/ Familie erzielen lässt, sondern auch ein Kontakt des Kindes zu anderen, alternativen Umfeldern ermöglicht werden kann.

Andere, stärker gezielte Interventionen der direkten interpersonellen Arbeit bedürfen eines entsprechenden Trainings der jeweiligen Mitarbeiter_innen. Dergleichen weitergehendes Training scheint schon deshalb sinnvoll, da die eigene Elternschaft nicht selten einen Moment des Lebens darstellt, in dem große persönliche Veränderungen und Entwicklungen möglich werden. Mithin kann die Distanzierung oder das Verlassen von extremistischen und gewaltlatenten Milieus in Reichweite gelangen. Mit entsprechenden Grundfähigkeiten und Erstansprache-Techniken, die in der Ausstiegshilfe und Deradikalisierungsarbeit erlernbar sind, können auch Fachkräfte der Familienhilfe die Fähigkeit erwerben, erste Sondierungen in dieser Richtung zu unternehmen. Auf diesem Wege kann ein immerhin minimales Problembewusstsein seitens der betroffenen Eltern/ Mütter gefördert werden. Von hieraus können Versuche unternommen werden, die Person zu motivieren, an weitergehenden Hilfeangebote teilzunehmen, in denen spezialisierte Fachkräfte der Distanzierungsbegleitung die Arbeit fortsetzen.

Weiterhin scheint empfehlenswert, Gesundheits- und Hebammendiensten eine Beratung und Fortbildung sowie fachliche Begleitung zugänglich zu machen, um angemessen und professionell intervenieren zu können, wenn sie in ihrer Arbeit auf Familien stoßen, bei denen rechtsextreme oder militant islamistischen Lebenskontexte erkennbar sind.

In internationaler Perspektive fällt auf, dass Kolleg_innen aus Großbritannien und den Niederlanden in ihren Länderprogrammen der Extremismus- und Terrorismusprävention seit kurzem systematisch den Gesundheitsbereich mit einbeziehen. War es doch in der Vergangenheit einige Male vorgekommen, dass terroristische Attentäter in der Zeit vor ihrer Tat bei Ärzt_innen oder Therapeut_innen vorstellig wurden und ihre Tat dort sozusagen ankündigten. Die Praktizierenden wussten sich in dieser schwierigen Situation nicht zu helfen und konnten die Ausführung nicht verhindern. Das Radicalisation Awareness Network (RAN) hat daraufhin eine Arbeitsgruppe RAN Health eingerichtet. Umso naheliegender ist es gerade für den deutschen Kontext, nicht nur mit Blick auf akute Einzeltäter, sondern auch hinsichtlich des weiteren sozialen Umkreises von gewalttätig-extremistischen Milieus Vorkehrungen zu treffen und die Sensibilisierung und Fortbildung aller bevölkerungsnaher Gesundheits- und Fürsorge-Institutionen voranzutreiben.

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Elternberatungen

Als wichtiges Instrument bei der Unterstützung von Distanzierung und Ausstieg haben sich die Elternberatungen herausgestellt. Denn es sind natürlich oft die Eltern, denen zuerst auffällt, wenn ihr Kind sich zurückzieht, wenn es beginnt, sich intensiv mit extremistischen Ideologien auseinanderzusetzen und seine äußere Erscheinungsform entsprechend zu verändern, oder wenn es viel Zeit vor dem Computer verbringt, bisherige Freundschaften abbricht und plötzlich einen neuen Freundes- und Bekanntenkreis hat.
Bei den Elternberatungen geht es im Wesentlichen darum, die Eltern in ihren Erziehungs- und Selbsthilfekompetenzen grundsätzlich zu stärken und sie in dieser besonderen Gefährdungslage zu begleiten.

Hierfür gibt es z.B. in Bremen und Berlin spezifische Angebote,

  • die Eltern beraten und begleiten,
  • die ihre Kinder aus rechtsextremen und militant-islamistischen Bezügen herauslösen wollen,
  • die das Eigenengagement von Eltern und die Einrichtung von Eltern-Selbsthilfe-Gruppen unterstützen und moderieren,
  • die Fortbildungen und Beratungen von Pädagog_innen (im train-the trainer-Ansatz) durchführen,
  • die mit betroffenen Eltern und/oder Kindern in Kontakt kommen.

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Stationäre Mutter-Kind-Einrichtungen

In stationären Mutter-Kind-Einrichtungen werden vor allem minderjährige Mütter oder Schwangere in ein Umfeld des betreuten Wohnens aufgenommen, um sie bei der angemessenen Versorgung und Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen. Das Jugendamt kann Mütter in problematischen Lebenslagen, die eine Gefährdung des Kindeswohls befürchten lassen, in diese Einrichtungen überweisen. Zur Klientel von Mutter-Kind-Einrichtungen/Heimen gehören nicht selten auch solche jungen Frauen, die in rechtsextremen Szenekontexten leben oder anderweitige durch Extremismus, Ressentiment oder gruppenbezogenem Hass geprägte Lebensstile pflegen und/oder durch ausgeprägt Alkohol- und Gewalt-Zusammenhänge auffallen. Im Rahmen von WomEx kamen wir mit Frauen in Kontakt, die eine Möglichkeit der Aufarbeitung ihrer rechtsextremen Szenevergangenheit (oder noch bestehender Zugehörigkeit) sowie des eigenen Gewaltverhaltens dringend benötigt hätten. Anderen wiederum wäre nach dem Aufenthalt in der Mutter-Kind-Einrichtung eine Begleitung durch versierte Lebensberatung sehr zugute gekommen. Dies gilt umso mehr, da bei Distanzierung oder Ausstieg aus einem rechtsextremistischen Milieu gerade bei Frauen in vermehrtem Maß auch Isolation oder sogar Drangsalierung zu befürchten steht. Das pädagogische Personal der Heime konzentriert sich jedoch, seinem Auftrag gemäß, vor allem auf Erziehungsberatung und darauf, unmittelbar schädigendes Verhalten der Mütter gegenüber ihren Kindern abzuwenden (Suchtmittelmissbrauch, Gewalt).

Umso ratsamer scheint es, für (junge) Mütter und Väter gender-spezifische bzw. gender-fokussierte Angebote der Distanzierung von Extremismus einzurichten und fachliche Beratung für die Mitarbeiter_innen der Einrichtungen bereitzustellen. Ein eng begleitendes Coaching einer Mitarbeiter_in kann insbesondere dann erforderlich sein, wenn schon ein stabiles Vertrauensverhältnis zur Klientin/Mutter besteht, so dass die Möglichkeit einer intensiveren Bearbeitung in Aussicht steht. Allerdings müssen für die zusätzliche und intensive Arbeit, die zu einer Bearbeitung von Rechtsextremismus nötig ist (Aufarbeitung von Gewalterfahrung und Gewalthandeln, Biografie und persönliche Genderperspektiven, Hinterfragen der Ideologie, etc.) auch ausreichende personelle Ressourcen gegeben sein.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Mutter-Kind-Einrichtungen häufig in regionaler Nähe zum extremistisch geprägten Sozialraum der Klientin liegen, so dass eventuelle Sicherheitsrisiken für Klientinnen und Mitarbeiterinnen bestehen, die es zu berücksichtigen gilt. Eine profunde Fortbildung und Beratung ist aber vor allem schon deshalb notwendig, weil Institutionen der Fürsorge und Gesundheitsversorgung regelmäßig Zielpunkt von Unterwanderungsstrategien rechtsextremer Organisationen sind. Dem kann nur mit entsprechend versierter Einschätzungskompetenz vorgebeugt werden.

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Ambulante Familienhilfe / Kinderheime

In der sozialpädagogischen Familienhilfe wird aus gutem Grund versucht zu verhindern, dass Kinder aus der Familie herausgenommen werden, solange dies wegen drohender Kindeswohlgefährdung nicht unbedingt geboten ist. Bei belasteten, aber noch hinreichend funktionsfähigen Familien wird dann jeweils ein Hilfeplan erstellt, auf dessen Grundlage die Helfer_innen vor Ort ambulant tätig werden und die Familien regelmäßig in ihrer Wohnung besuchen. Dabei kommen sie auch mit rechtsextremen Eltern in Kontakt. Einige Fälle der letzten Jahre in Deutschland haben gezeigt, dass sich Familienhelfer_innen, die in diese Situation geraten, oft unvorbereitet und allein gelassen fühlen. Vereinzelt sind inzwischen Fortbildungsangebote verfügbar, die Familienhelfer_innen für diese Thematik sensibilisieren und sie unterstützen können. Darüber hinaus scheint es ratsam, Möglichkeiten der weiteren Zusatzqualifikationen für Familienhelfer_innen zu schaffen, die bereit sind, sich diesem besonderen Themenfeld zuzuwenden, um Familien- und Gender-orientierte Ausstiegsarbeit zu betreiben. Dergleichen Fortbildungen könnten darauf ausgerichtet sein, (a) Rechtsextremismus und menschenverachtende Haltungen im Direktkontakt zu bearbeiten, (b) Distanzierungen im Familienhilfeprozess anzuregen, (c) Kinder aus rechtsextremen, militant islamistischen oder anderweitig militant menschenverachtenden Milieus zu schützen.

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Frauenhäuser

Frauen aus rechtsextremen Bezügen sind nicht selten auch Opfer von häuslicher (und Szene-interner) Gewalt – und suchen deshalb Schutz in Frauenhäusern. Umso ratsamer wäre, Mitarbeiterinnen in Frauenhäusern für den Umgang mit Extremismus zu sensibilisieren und entsprechend fortzubilden. Hierfür wäre freilich erforderlich, Formen und Wege der Distanzierungsarbeit und Unterstützung zu entwickeln, die speziell auf die Belange und Klientinnen von Frauenhäusern abgestimmt sind.

Dies empfiehlt sich umso mehr, als Frauenhäuser für ausstiegswillige Frauen eine hilfreiche Zuflucht und Möglichkeit darstellen, wenn sich die Ablösung von der extremistischen Szene als riskant erweisen sollte. Frauen – zumal mit Kindern – sind beim Ausstieg manchmal in vermehrtem Maße der Androhung von Übergriffen und Gewalt seitens der Szene (und dem Partner) ausgesetzt, insofern ihr Ausstieg oft in doppelter Weise als persönlicher Verrat an der Szene gewertet wird. Hier wird in besonderer Weise offenkundig, wie unerlässlich es ist, in der Rechtsextremismus-Prävention/Intervention mit Gender-orientierten Verfahren und Methoden zu arbeiten.
Auch Frauen aus islamistischen Bezügen suchen Frauenhäuser auf, um Schutz vor Gewaltübergriffen durch (Ehe-)Partner oder bedrohlichen Lebensumfeldern zu finden. Auch für sie bieten sie die Möglichkeit, sich aus extremistisch-fundamentalistischen Lebenskontexten zu lösen. Eine Besonderheit hierbei ist, dass junge Frauen aus islamistischen Bezügen oft auch vor drohender Zwangsverheiratung fliehen. Umso mehr kann das Frauenhaus ein Ort sein, an dem Frauen aus unterschiedlichen religiösen und politischen Kontexten darin begleitet werden können, sich mit den ideologischen Elementen, die ihr Leben bestimmt haben, auseinanderzusetzen. Die Komplexität des Gender-Aspekts in der Arbeit von Frauenhäusern ist in anderen EU Mitgliedsstaaten noch dadurch erhöht, dass sich zunehmend auch junge Männer auf der Flucht vor Zwangsehen an Frauenhäuser wenden.

Bekanntlich sind Ungleichwertigkeitsvorstellungen über Mann und Frau sowohl im Rechtsextremismus als auch in vormodernen islamistischen Auslegungen des Koran zu finden, wie auch in archaischen Klan-Kulturen und anderen menschenrechtsfeindlichen Milieus, die möglicherweise ein extremistisches Potential bergen.

Wie an anderem Ort bereits vermerkt, ist der Fokus auf Familienhilfe und Frauenhäuser keineswegs nur ein Randaspekt von (Gender-orientierter) Präventionsarbeit. Denn Kriminal-Kartographien haben aufgewiesen, dass diejenigen Stadtbezirke, in denen viele Gender-basierte Konfliktlagen bestehen, auch diejenigen Bezirke sind, in denen eine hohe Dichte von gewalttätig-extremistische Risikopotentialen besteht.

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Genderaspekte

Genderaspekte sind all diesen Maßnahmen inhärent, und zwar in mehrfacher Hinsicht; zum einen insofern Frauen in Familie und Kindererziehung eine besondere Rolle einnehmen und zum anderen weil die Familie als primärer Ort der Sozialisierung von Genderidentität gelten kann.

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Beispiele

LidiceHaus parent counseling
Lichtblicke parent counseling, training and family support accompaniment
Lola für Lulu
Chance for Change /formally REXEL (VPN)